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Wanderreportagen

Kommt Zeit, kommt Kristall

Ein Kristallfund am Vorder Zinggenstock führte 1719 zu einer Strahlereuphorie im Haslital. Heute sind dort kaum mehr Kristalle zu finden. Auf dem Wanderweg vom Grimselpass zum Berghaus Oberaar gibt es aber glitzernde Steine zuhauf – sie mit Hammer und Meissel abzubauen, lässt den Pioniergeist von damals aufleben.
11.07.2025 • Text: Rémy Kappeler, Bilder: Sandra und Stefan Grünig-Karp, natur-welten.ch
Auf der Wanderung gut im Blick: der Vorder Zinggenstock (Bildmitte), an dessen rechter Flanke oberhalb des Grimselsees die Kluft liegt.
Aussichtsreich zum Oberaarsee
Grimsel Passhöhe — Berghaus Oberaar • BE

Aussichtsreich zum Oberaarsee

1719 war es, als der Fund einer grossen Kristallkluft am Fusse des Vorder Zinggestocks eine Euphorie im Haslital auslöste. Um die 50 Tonnen Kristalle bargen die Strahler in den darauffolgenden Jahren aus der 40 Meter langen Höhle. Sie verkauften die Steine nach Mailand und Paris, wo aus ihnen Schmuck und Kunstgegenstände gefertigt wurden. Drei der Kristalle sind heute noch im Naturhistorischen Museum in Bern zu sehen, die Strahler gaben sie dem Staat Bern als Steuern ab. Den grossen Fund macht man auf der Familienwanderung von der Grimselpasshöhe zum Berghaus Oberaar wohl nicht. Aber mit etwas Ausdauer findet sich hier schon das eine oder andere glasklare Kristallspitzchen, das sich zu Hause auf dem Nachttischchen gut macht. Am besten, man packt dazu Hammer und Meissel in den Rucksack – und einen Schraubenzieher zum Stochern. Den einzigen grösseren Aufstieg gibt es am Anfang: Mit Aussicht auf den Totesee und den Grimselpass wandert man in Spitzkehren bis zur Hüsegghütte, wo das mitgebrachte Znüni genossen werden kann. Fortan zieht sich der Granitweg die Höhe haltend der Flanke des Sidelhorens entlang. Bald sieht man den Vorder Zinggestock und den Grimselsee, an dessen rechtem Ufer die leere Kristallkluft liegt – unerreichbar für Wandernde. Umso mehr geniesst man die raue Gebirgswelt, der die Kraftwerke Oberhasli mit ihren Anlagen Strom abtrotzen: Triebteseewli wie auch Oberaarsee haben Staumauern. Die ehemals für die Mitarbeitenden gebauten Seilbahnen sind heute öffentlich: So beginnt diese Wanderung mit der Fahrt mit der Sidelhornbahn vom Grimsel Hospiz aus auf die Passhöhe – alternativ fährt das Postauto auf die Passhöhe – und wird mit der Talfahrt in der Oberaarbahn beendet. Das Berghaus Oberaar rundet die Wanderung ab: Hier kann eingekehrt werden – und wer am nächsten Tag noch Lust auf eine kurze Wanderung zum Gletschertor des Oberaargletschers hat, kann hier auch übernachten.

zum Wandervorschlag

Im Jahr 1719 suchen einige Männer aus dem Oberhasli am Fusse des Vorder Zinggestocks nach Kristallen. In mühseliger Arbeit bearbeiten sie mit ihren Eisen und Hämmern Quarzband um Quarzband. Nach etlichem erfolglosem Vordringen in den Berg fällt ihnen auf, dass unter einem eher unscheinbaren Quarzband Wasser austritt. Was das bedeuten mag?

Die Männer, gemäss historischen Quellen handelt es sich um die Strahler Peter Moor, seine drei Brüder und Melchior Brügger, beginnen, mit Werkzeug die Stelle auszuweiten. Der Wasserstrahl schwillt an, und als er wieder versiegt, können die Männer ihr Glück kaum fassen: Sie haben eine der bedeutendsten Kristallklüfte in der Geschichte der Schweizer Strahlerei entdeckt. In den Jahren darauf werden sie um die 50 Tonnen Kristalle aus der 40 Meter langen Kluft bergen.

Unzugängliche Kluft

«Die Entdeckung löste damals im Haslital einen Strahlerboom aus», erzählt Beat Teige beim Aufstieg vom Grimselpass zur Husegghütte, wo erstmals der Blick auf den Vorder Zinggestock frei wird. Der Präsident der Haslistrahler, eines Vereins von Hobbystrahlern, zeigt, wo ungefähr die Kluft liegt: am linken Ufer des Grimselstausees, auf etwa 2000 m ü. M., wo steile Felswände sich abwechseln mit üppigen Partien von Erlen, Farnen und Blacken. «Früher gab es einen Wanderweg zwischen der Oberaarstaumauer und dem Unteraargletscher, doch er wird seit Langem nicht mehr unterhalten und ist vollkommen überwachsen.»

Schon 1719 war die Kristallhöhle schwierig zu erreichen. Wollten Forscher oder sonst Neugierige den Ort erreichen, mussten sie den Unteraargletscher überqueren und von dort zur Grotte aufsteigen. 1721 schrieb der ortsansässige Pfarrer David Märki in einem Bericht namens «Crystallographia»: Um hinzugelangen, steige man den «grausamen Berg hinauf, bis man mit grösster Mühe ungefähr die Höhe der Crystall-Mine gewonnen […]; von dannen hat man noch in die 200 Schritt alles der Fluhe nach durch einen entsetzlichen Weg [...] zu gehen …».

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Unter anderem durch Caspar Wolfs Bild «Kristallhöhle am Zinggenstock», datiert 1775, fand man 2019 die vergessene Kluft wieder. © Bild: Caspar Wolf (*03.05.1735, Muri AG, †06.10.1783, Heidelberg), Hochtal mit Blick gegen Griessenfirn, 1775, Öl auf Leinwand, rentoiliert, 54 x 82 cm, Kunstmuseum Bern, Verein der Freunde. Ankauf mit Mitteln aus dem Legat von Anna Adele Burkhart-Gruner.

Verheissungsvolle Stellen

Im Gegensatz dazu verläuft diese Familienwanderung vom Grimselpass über das Triebteseewli zum Berghaus Oberaar auf einem einfach zu gehenden Wanderweg. In diesem nicht sehr steilen Hang haben schon viele Strahlerinnen und Strahler nach Kristallen gesucht. «Der grosse Fund ist hier kaum mehr zu machen, aber kleine, schöne Steine finden sich immer noch», sagt Beat.

Aufmerksam sucht er die Gegend ab, bis er einen Erfolg versprechenden Ort findet: zwei grosse, zerklüftete Felsen, dazwischen ein Quarzband mit kleinen kristallisierten Zonen. Hammer und Meissel sind rasch zur Hand, und die Arbeit beginnt. Beat setzt das Eisen an, schlägt mit dem Hammer darauf. Klar und hell tönt es, wenn Eisen auf Eisen schlägt, dumpf, wo das Eisen den Stein bearbeitet. Kleine Brocken rieseln hinunter. Ein grösseres Steinstück bewegt sich, Schlag um Schlag etwas mehr. Mit den Fingern zieht es Beat heraus. Doch ein kurzer Blick darauf genügt: «Nichts», sagt er und legt den Brocken zu Boden, um sofort an der Bruchstelle zu prüfen, ob er vielleicht eine neue verheissungsvolle Stelle freigelegt hat.

«Wenn du ein Glitzern entdeckst, schau genauer hin. Vielleicht findest du einen kleinen Bergkristall.»

Beat Teige, Kristallsucher

Feingefühl und Zeit

Dann dürfen auch die Kinder ran. Auch sie untersuchen den Quarz, prüfen, wo sie ihren Meissel ansetzen können, um ein besonders hübsches Stück Stein herauszuhauen. «Wenn du ein Glitzern entdeckst, schau genauer hin. Vielleicht findest du einen kleinen Bergkristall», ermutigt sie Beat. «Und dann überlege, wie du den Stein herausarbeiten kannst.»

Das ist gar nicht so einfach, immer wieder zerstört ein unvorsichtiger Schlag den Schatz, den man herauslösen möchte. Oder der Stein zerbricht noch in der Wand. «Ein Strahler braucht viel Geduld, Feingefühl und Zeit. Wenn er eine Kluft freilegt, beginnt er weiträumig und nähert sich vorsichtig dem Ziel», erzählt Beat.

Ehrensache

Etwas später – beim Picknick – packt Beat seinen Rucksack aus und zeigt seine Ausrüstung: Neben Hammer, Spitzeisen und Meissel liegen im Gras Schraubenzieher, Strahlstock, Pickel und ein Strahlergrübel: Dieser sieht aus wie ein Löffel, dessen Stiel mit Elementen verlängert werden kann. Mit ihm zieht man Kristalle von weit hinten aus einer schmalen Kluft heraus. Dazu kommen Helm, Sonnenbrille, Feldstecher, Apotheke, Karte, Handschuhe und ein Unterlagekissen für die Knie. Zeitungen, um die Funde einzupacken.

Mit dabei hat Beat auch immer eine Visitenkarte. Hat er nach tagelangem Umherstreifen endlich eine Kluft gefunden, markiert er sie mit seinen Initialen und der aktuellen Jahreszahl, hinterlässt ein Werkzeug und die Visitenkarte. Laut dem Ehrenkodex der Strahler geniesst er so das Recht, dort zwei Jahre lang ungestört Kristalle abzubauen.

Im besten Fall sind es viele Kristalle, oft haften sie auf grossen Granitplatten – sie sind zu schwer, um sie im Rucksack heimzutragen. «Um meine grössten Fundstücke zu bergen, habe ich auch schon einen Helikopter kommen lassen», sagt Beat. In seiner Werkstatt in Meiringen steht dann die aufwendige Reinigungsarbeit an: Zähe Beläge auf den Kristallen kann er mit Säure auflösen und mit dem Glasperlenstrahlgerät entfernen. Manchmal genügen aber auch einfach pures Wasser und Bürste oder allenfalls das Hochdruckgerät. «Das ist meine Winterbeschäftigung.»

Aus der Tiefe

Die Zeit am Berg vergeht schnell, die Kinder gewinnen immer geschickter glitzernde Steine. Fasziniert blicken sie in die glasklaren Türmchen und Zäpfchen. Diese entstanden vor etwa 15 Millionen Jahren aus einer mineralisierten Lösung unter sehr hohen Druck- und Temperaturverhältnissen tief unter der Erde. Erst durch die Bildung der Alpen sowie durch Erosion und Verwitterung gelangten sie an die Oberfläche.

Die Steine der Kinder werden bald ihre Nachttischchen zieren. Und was macht der Strahler mit seinen Kristallen? «Die besten Stücke bekommen ihren Platz in der Sammlung. Sie erinnern mich an gemeinsame Glücksmomente und Strapazen mit meinen beiden Junioren und Strahlerkollegen», erzählt Beat. Die anderen Steine bietet er an der Mineralienbörse der Haslistrahler in Innertkirchen an oder verkauft sie an Kioske. Oder er bietet sie im eigenen «Steinideen»-Lädeli an, zusammen mit handgemachtem Schmuck, Skulpturen und Dekoartikeln aus vielfältigen Haslisteinen.

In Vergessenheit …

Die Entdecker der Kluft am Vorder Zinggestock wurden nicht reich, obwohl sie die begehrten wasserklaren und sehr grossen Kristalle nach Mailand und Paris verkauften, wo aus ihnen Kunstgegenstände wie Vasen, Pokale, Schalen und Trinkgefässe gefertigt wurden. Jährlich mussten sie von den Einnahmen einen Zehnten der Obrigkeit des Staates Bern abgeben. Einmal wurden Kristalle anstatt Geld eingezogen: Diese einzigen übrig gebliebenen Zeugen des grossen Funds können heute im Naturhistorischen Museum in Bern bewundert werden.

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Diese Kristalle aus der Zinggenstockhöhle stehen heute im Naturhistorischen Museum Bern. © Naturhistorisches Museum Bern

Der Abbau der Kluft endete 1735, und durch das Wachsen des Gletschers in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde sie unzugänglich. Das Eis verschüttete den Eingang mit Moränenmaterial, das später überwachsen wurde. So geriet die genaue Lage der Kluft in Vergessenheit.

… und wieder entdeckt

Bis sich vor etwa zehn Jahren Strahler auf die Suche machten – unter ihnen Thilo Arlt. Er las über 60 alte Reise- und Forschungsberichte, suchte in Kunstmuseen und während rund 20 Begehungen im Gelände nach Hinweisen, verglich alte Gemälde mit der Landschaft von heute.

Die Entdeckung der Höhle schildert Thilo Arlt in einem Artikel der Naturforschenden Gesellschaft in Bern wie folgt: Als er und einer seiner Kollegen am 31. August 2019 am Ende eines erfolglosen Suchtages einen Bach genauer betrachteten, fiel ihnen auf, dass dieser in den senkrechten Wänden darüber nicht zu erkennen war. Sie stiegen dem Bachlauf entlang hinauf und entdeckten, dass die Quelle aus mit Gras bewachsenem Moränenschutt heraustrat. Einen halben Meter weiter oben konnten sie durch einen schmalen Schlitz zwischen Schutt und Fels einen mit Wasser gefüllten Hohlraum erkennen.

Mit dem Pickel vergrösserten sie den Schlitz im Moränendamm. Der Bach schwoll einige Minuten an, bis der Hohlraum leer war. Sie krochen hinein und fanden die 40 Meter lange Kluft, gestützt von uralten Holzbalken und Trockenmauern. Erneut hatte das Wasser dem Menschen einen entscheidenden Hinweis gegeben.

Rémy Kappeler ist immer noch Redaktor des Magazins DAS WANDERN – den grosse Kristallfund machte er im Oberaargebiet leider nicht. Doch die eindrückliche Landschaft machte ihn trotzdem reich.

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Tipp

Wen es noch nicht nach Hause zieht, übernachtet im Berghaus Oberaar und wandert am nächsten Tag zum Gletschertor des Oberaargletschers. Der Wanderweg am Nordufer des Oberaarsees entlang ist einfach, der Ort umso eindrücklicher.


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